76 - Harbin
76
– Harbin 2023
Harbin ist eine junge
Stadt. Mit der Eisenbahn, für welche in Harbin Ende des 19. Jahrhunderts ein
Bahnhof gebaut wurde, begann der Aufschwung. In dieser Zeit lebten viele Russen
in der Stadt. Zu Beginn der 20-er Jahren im letzten Jahrhundert lebten über
100'000 Russen hier. In den 30-er und 40-er Jahren zogen viele russische Juden
hierhin, um vor der antisemitischen Verfolgung zu fliehen, damit sie ein neues
Leben beginnen können. Die japanischen Truppen besetzten 1932 Harbin. Dabei wurden
viele Russen, welche aus der ehemaligen Sowjetunion und Weissrussland flohen,
wieder vertrieben. Auch Juden haben die Stadt langsam wieder verlassen. Heute
leben nur noch ganz wenig Juden und Russen in Harbin.
Die im europäischen
Stil gebaute Altstadt, der Distrikt Daoli, ist längs der
Central-Avenue (meist Central-Street genannt) noch gut sichtbar. Je nach Quelle
leben heute 8 Millionen Menschen. 1957 wurde die erste Million überschritten,
1982 die Zweite, dann kletterte die Zahl in kurzen Abständen in die Höhe.
Wir sind am 12. Juni in
Harbin, der Geburtsstadt von Maria angekommen und bezogen vorerst ein Hotel im
Herzen der Stadt. Nach einer nicht einfachen Suche im Zentrum fanden wir eine
Unterkunft im 30. Stock in einer Wohnüberbauung, nahe des Flusses Songhua. Wir
sind der Natur sehr verbunden und lieben grundsätzlich ein Leben in der Natur,
wie wir das von Murten her kennen. Die Aussicht hier ist unglaublich. Unser
Blick geht hauptsächlich Richtung Süden und wir sehen ausschliesslich Betonbauten.
Je nach Beleuchtung in der Abend- oder Morgensonne ändern sich die Farben, das
ist eindrücklich. Einen Moment so wohnen zu können ist spannend. Wenn wir vom
«Erker» her Richtung Westen sehen, ist die Fluss- und Moorlandschaft vom
Songhua River sehr beruhigend. Im 30. Stock ist der Lärmpegel permanent. Man
hat den Eindruck, an einem Gebirgsbach zu leben, doch die Melodie kommt vom
Strassenverkehr. Zwischendurch hört man nicht Hundegebell oder Rehgebrüll, es
sind hupende Autos. Im Wissen, dass es nur für eine bestimmte, nicht allzu
lange Zeit ist, ist es auch erträglich.
Das Wohnen in einer solch
imposanten Wohneinheit ist ein besonderes Erlebnis. Der Innenhof mitten in den
riesigen Gebäuden ist sehr gut gestaltet. Für Kinder gibt es einen Spielplatz,
für junge und ältere Menschen Bewegungsanlagen, Sitzplätze und für
Sportbegeisterte besteht die Möglichkeit, runden zu drehen. Abends kann man das
öfters beobachten. Die Stimmungen morgens früh, bei Sonnenuntergang oder bei
Regen ist immer wieder anders. Es hat auch sein Besonderes.
Die Kulturrevolution hat
auch hier nicht Halt gemacht. Die Grosseltern von Maria wurden mehr oder
weniger enteignet, sie besassen ein Leder- und Pelzgeschäft mit eigener
Produktion. Die älteren Geschwister von Maria mussten als «Schwarze» mit einem
Spitzhut aus Papier durch die Strassen gehen und ihre jüngeren Geschwister
mussten auf das Land gehen. Maria selber musste in einem
Steinbearbeitungsbetrieb vor Ort arbeiten. Viele historische Gebäude in
europäischem Stil wurden zerstört.
Eine Strecke des
Orient-Express führt auch über Harbin. Die Eisenbahn Middle East Railway wurde
Ende des 19. Jahrhunderts gebaut. Die Stadt entwickelte sich rasch. Es wurde
eine Hauptstrasse gebaut. 1926 wurde diese «Naturstrasse» mit Kopfsteinpflaster
befestigt. Sie wird heute «Central Street» (ich nenne sie gerne Central
Avenue, es tönt gehobener) genannt. Im Volksmund sagt man teils noch heute,
dass die Steine ein Meter in die Tiefe gehen. Das konnte jedoch während einer
Gesamtrenovation in den 90-er Jahren widerlegt werden. Die Steine haben die
Masse 18x10x20cm, eine besondere Dimension. Die Oberfläche ist etwas
abgerundet, deshalb nennt man diese auch Brotlaib-Steine. Die gut 1.4 Kilometer
lange Central Avenue in Harbin ist einmalig. Täglich flanieren tausende die
Strasse auf und ab und nutzen all die Einkaufsmöglichkeiten und besuchen die
Restaurants, teils mit europäischer, um nicht zu sagen russisch beeinflusster
Küche. Längs der Avenue hat es überall Lautsprecher, es gibt Werbung und
zwischendurch wird Musik, oft bekannte Musik aus «Katjuschka», gespielt. Ich
mag diese Musik, doch im Moment geht mir bei russischen Melodien der kriminelle
Terrorist Putin und seine Schergen durch den Kopf und es kehrt mir
zwischendurch fast den Magen. Wenn ich auf der Strasse angesprochen werde und
sie fragen, ob ich ein Russe sei, schnürt es mir den Magen zu und ich antworte
blitzschnell: «Nein, Schweizer».
Die einst
russisch-orthodoxe Sophienkathedrale ist heute ein Museum und ein
Wahrzeichen der Stadt. China hat aus bekannten Gründen nur einen begrenzten
Bezug zu Kirchen, im Kern spricht man von einer touristischen Attraktion. Zum
Glück wird das Schmuckstück zumindest an der Fassade gut unterhalten. Im
Innenbereich sieht es schon etwas traurig aus. Es wird eher als
Ausstellungsraum für Kunst genutzt, die Menschenmasse drängt sich zum Eingang,
macht einige Bilder und verlässt den Ort nach einigen Minuten durch den
Ausgang. Einige sitzen kurz auf den Bänken und durchforsten ihr Mobil nach
Neuigkeiten oder tauschen Neuigkeiten untereinander aus oder machen einfach
eine kurze Pause bevor auch sie die Kirche wieder verlassen.
Die Sankt Nikolaus
Kathedrale wurde 1900 auf dem höchsten Punkt in Harbin, im Bezirk Nangan, ausschliesslich
aus Holz gebaut. Kein einziger Nagel wurde dafür benutzt. Anfangs war die
Kathedrale der Harbin-Mandschurischen Diözese angeschlossen. Anschliessend der
Russisch-Orthodoxen Kirche.
Während der
Kulturrevolution fand am 18. August 1966 in der Kathedrale eine feierliche
Nachtwache statt. Mitglieder der Roten Garde, Studenten der Polytechnischen
Universität aus Peking, baten um Einlass und nahmen an der Zeremonie teil.
Einige Tage darauf wurde die einzigartige Kathedrale von der Roten Garde
abgefackelt. Am 27. August, dem Tag vor Mariä Himmelfahrt, war ausser dem
Fundament der Kathedrale nichts mehr übrig.
Der Songhua-River
ist nach dem Yangtse-River und dem Jellow-River der drittgrösste Fluss in
China. Er schlängelt sich von Jilin her, einer Gebirgsregion nahe der Grenze zu
Nordkorea, durch eine riesige Ebene und fliesst anschliessend in den Amur. Es
gibt viele Sandinseln und Seitenflüsse. In Harbin nennt sich eine Insel «Sun
Island». Auf dieser stehen heute noch einige Häuser von russischen
Wohlhabenden.
Wir hatten das Glück, mit Fachbegleitung im Songhua-River zu schwimmen. Auf der anderen Seite des Flusses gibt es kleine Orte, mit einem Schrebergarten zu vergleichen. Diese Plätze werden von 20-30 Personen gemeinsam gemietet. Sie stellen einfache Zelte auf, haben eine Kochstelle und daneben kleine Gärten, wo sie Tomaten, Gurken und andere Gemüse kultivieren, welche dann auch vor Ort konsumiert werden. Die Menschen treffen sich zum Jassen, Essen oder einfach zum Zusammensein. Später habe ich erfahren, dass sie FKK geniessen. Bevor wir dort eingetroffen sind wurden die Anwesenden informiert, dass ein «Langnase» komme. Sie haben für die Zeit unseres Aufenthalts ihre Badekleider angezogen.
Die Flusslandschaft des Songhua-River ist eindrücklich. Das wellenförmige Flussbett hat unzählige Seitenflüsse und Moore. Ein Lebensraum für viele Tiere, aber auch um landwirtschaftliche Produkte zu erzeugen. Ein Ferienresort wurde kurz vor Corona fertig erstellt. Leider konnte es bis heute noch nicht genutzt werden.
Der Sibirische Tigerpark wurde 1996 eröffnet. Er beinhaltet etwa 1'000 Tiger und einige Löwen, Puma, Leoparden, die teils hier auch gezüchtet werden. Weiter kann man weisse Tiger und andere seltene Fellfarben bestaunen. Hier werden vom Aussterben bedrohte Tiere in einem natürlichen Umfeld geschützt. Die Anlage hat eine Fläche von knapp einer Million m2.
Der Zhaolinpark ist
ein gepflegter Park mitten in der Altstadt Daoli, wo man einfach flanieren,
sich an Blumen und einigen Tieren erfreuen kann und den Kindern eine Freude mit
einem Ritt auf einem Karussell gönnen.
Unweit von diesem Park ist
die alte Eisenbahnbrücke über den Songhuariver mit der Bahnstation,
die heute als Museum dient.
La Traviata, die Oper von Giuseppe
Verdi wurde in einer ehemaligen alten jüdischen Kirche aufgeführt. Anstelle
eines Orchesters wurde ein Flügel eingesetzt. Die kleine Gruppe von Sängerinnen
und Sänger überzeugten und man spürte ihre Freude auf der Bühne. In der Oper
von Harbin durften wir ein Sinfoniekonzert besuchen. Stücke von chinesischen
Komponisten wurden von verschiedenen Solisten interpretiert. Sehr eindrücklich,
es bleibt uns unvergesslich.
Die «Unit 731» war das
«Auschwitz» in Harbin. Der Militärarzt Ishii baute diese Vernichtungseinheit 20
Kilometer südlich von Harbin, welches bis zur Kapitulation zur japanischen
Kolonie gehörte. Dieser Unmensch wollte Japan zum Biowaffenland Nummer eins
bringen. Lange wurde über diese Gräueltaten nicht gesprochen, heute ist ein
Rest der Anlage der Öffentlichkeit zugänglich. Wir haben die Anlagen vor vielen
Jahren einmal besucht. Ebenso kann ein Konfuzius-Tempel aus dem Jahr 1929
besucht werden. Vom Drachenbootrennen und dem Polizeistaat par exellence habe
ich in meinem Bericht 75 geschrieben.
Die Freizeitaktivitäten
der chinesischen Bevölkerung sind sehr vielfältig. Vom Singen, Tanzen über
Taiji, Kung-Fu, Schwimmen, Basketball im öffentlichen Raum und so weiter sieht
man alles. Sie pflegen ihr entsprechendes Hobby fast täglich und üben ihre
Tänze, Marschübungen, Gesang, Musik oder Taiji in Gruppen. Ein Freund von uns,
Jian Jong, ist Nachfolger als Gongfu Trainer von Maria’s Vater. Sie haben am
Songhua-River ihren Stammplatz. Ihr Training beginnt um 06°°Uhr vormittags und
findet das ganze Jahr durch statt, ob +35° oder -30°.
Bild obere Reihe rechts:
Ich bin wohl der einzige Schweizer, der im Juli 23 das Training für die
Teilnahme am Murtenlauf 2025, hier in Harbin begonnen hat. Ich weiss noch
nicht, ob ich es schaffe. Eigentlich wollte ich Triathlon aufbauen, da ich ja
auch im Songhua-River schwimme, doch ein Velo zu klauen ist mir ein zu grosses
Risiko in China, da ich ja noch kein guter Chinese bin 😊. Bild
untere Reihe rechts: Ein Mann schlägt mit seiner «Peitsche» auf den
Hurrlibueb, dieser dreht wie verrückt und summt vor sich hin, wenn die Drehung
entsprechend hoch ist. Dieses Spiel wird auch auf dem gefrorenen Fluss gemacht.
Einmal waren wir zum
Mittagessen bei Freunden eingeladen. Die Wohnungstüre blieb die ganze Zeit
offen, um die Raumtemperatur angenehm zu halten. Nach dem Essen wurden
verschiedenste Gespräche weitergeführt. Plötzlich kam man auf ein politisches
Thema. Sofort wurde die Wohnungstüre geschlossen, weshalb muss ich wohl nicht
erklären. Viele Menschen in China fühlen immer einen Gedanken Gefahr hinter dem
Rücken. Da sie gerne in Frieden leben möchten sind sie verständlicherweise
vorsichtig.
Jian hat uns anlässlich
seiner Sommerferien in diesem Jahr in Harbin besucht. Wir gingen zusammen in
der Wanda Skihalle in Harbin Skifahren. Ein besonderes Erlebnis in
heutiger Zeit. Ich darf erwähnen, dass in Harbin der Sommer recht kurz ist und
gehe davon aus, dass die Abwärme das ganze Jahr durch entsprechend genutzt
wird.
In Harbin, wie übrigens in
vielen chinesischen Städten auch, wird jedes Jahr ein Bierfest
organisiert. Es ist bestimmt wie in München, es ist laut, es wird auf den
Tischen getanzt und gesungen und natürlich wird viel getrunken. Was mich
überrascht hat, um 21°°Uhr wurde langsam aufgeräumt und ich gehe davon aus,
dass um 22°°Uhr Schluss ist. Wir sind eine halbe Stunde früher in die Wohnung
zurückgekehrt, die Hallen waren teils schon halbleer.
Jian hat sich etwas
geärgert. Er wollte sein Mobile aufladen. Es gibt viele
Verkaufsstationen, wo man ein kleines Batterieladegerät mieten kann. Dafür muss
man ein guter Chinese sein. Jian war noch keine vertrauenswürdige Person. Da er
eine chinesische Telefonnummer erst vor kurzem gekauft hat, konnte er dieses
Ladegerät nicht mieten. Es gibt ja auch das System der chinesischen
Punktesammler, welche belegen, ob man ein guter oder weniger guter Chinese sei.
Eine andere Welt.
Jian hat während seinen
Ferien zwei SMS der Regierung erhalten. Der Inhalt: «Die zweite Hälfte der
Wehrpflicht 2023 hat begonnen und die meisten jungen Menschen sind aufgerufen,
der Armee beizutreten und dem Land zu dienen. Weitere Informationen finden
Sie…»
Maria hatte noch eine
kleine Zweizimmer-Mietwohnung, in welcher sie ihren Haushalt und etliche
Gegenstände ihrer Eltern aufbewahrte. Nach zwanzig Jahren konnte sie endlich über
ihren Schatten springen und diesen Haushalt auflösen. Es gab emotionale
Momente und Erinnerungen an die Auflösung unseres Haushalts in Murten. Nun ist
dies vollbracht und Maria konnte diesen Rucksack abladen.
Maria konnte noch etliche
Treffen mit Schulkolleginnen und Freunden organisieren und glückliche
Erinnerungen teilen. Nachfolgend noch einige Bilder «Abendstimmung».
Bye-bye
Harbin
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